Urteile

14. Dezember 2018

Heute besuchte ich, wie jede Woche einmal, eine Nachbarin. Wir kennen uns noch nicht sehr lange, ein paar wenige Wochen.

Heute erzählte sie mir von ihrer Geburt im damaligen Ostpreussen. Sie kam mit einer Hasenscharte zur Welt. Der Arzt, der bei der Geburt dabei war, packte sie, kaum war sie auf der Welt, unter den Arm und versteckte sie in einer Kiste im Keller. Ohne Betäubung wurde sie am Gesicht genäht.

Damals, 1943 in Ostpreussen, hatten Kinder mit Fehlstellung oder Behinderung keine Daseinsberechtigung und jeder, der einem solchen Kind half, zu überleben, war ebenfalls in Gefahr.

Auch zu Hause wurde sie versteckt, damit ja niemand erfährt, dass die Familie ein solches Kind hat. Im Arm gehalten wurde sie nie, wenn, dann packte man sie unter den Arm, wie einen Gegenstand. So glaubte sie, bis ins Erwachsenenalter, dass es völlig normal sei, dass Kinder unter dem Arm getragen werden.

Da sie anscheinend nicht nur eine Hasenscharte hatte sondern auch im Rachen alles offen war, konnte sie kaum sprechen. Auch heute noch kommen ihre Laute durch die Nase.

Wie durch ein Wunder hat sie das alles überlebt, doch heute ist sie traumatisiert. Seit vielen Jahren ist sie in Behandlung, doch immer wieder gerät ihr Körper ausser Kontrolle. Am Anfang kamen die Anfälle, ohne dass sie etwas machen konnte oder es bewusst wahrnahm. Heute ist sie schon so weit, dass sie merkt, dass es beginnt und weiss, was sie tun muss.

Wenn ich ihr Lausche, dann schaudert es mich immer wieder. Sie erzählt noch so viele andere Erlebnisse und doch sitzt diese Frau hier vor mir, hatte noch nie einen Partner, niemanden, der sie im Arm hält, wohl noch nie Sex und ist 75 Jahre alt. Sie jammert nicht, sie lebt einfach. Und ich habe nicht wirklich eine Ahnung, was in ihr vorgeht oder was sie erlebt hat.