Der Tod

18. Februar 2017

Ich bin 43 Jahre alt und habe bis heute noch keinen mir wirklich nahestehenden, innig geliebten Menschen durch den Tod verloren.

Es gab Zeiten, da hat mir der Gedanke Angst gemacht. Mein Verstand gab mir zwar 1000 logische Antworten auf den Tod aber wie würde ich reagieren, wenn es wirklich passiert? Wie würde ich mich fühlen?

Vor 3 Jahren erhielt ich die Nachricht, dass meine erste grosse Liebe (mein Papi) unheilbar an Krebs erkrankt ist. Der Mann, der ein Leben lang kaum ernsthaft krank war, von dem ich wohl meine Gesundheit geerbt habe, soll jetzt schon bald sterben? Er, von dem ich geglaubt habe, er würde bestimmt 100 Jahre alt werden und sein Leben als freier Mann noch in vollen Zügen geniessen können, soll jetzt schon bald sterben?

In meiner Phantasie sah ich meinen Papi als uralten Mann, der es geniesst, tun und lassen zu können, was er will und der sah, dass er es auch alleine schaffte. Ich sah ihn pfeifend und summend vor sich hin schlurfen, zufrieden mit sich selbst.

Meine Phantasie zerbrach und DAS schmerzte unglaublich. Ich war nicht traurig, weil er für mich bald nicht mehr da sein würde, sondern ich war traurig, weil meine Phantasie über ihn zerbrach.

Nach wenigen Monaten und ein paar Auseinandersetzungen kam ich zur Erkenntnis, dass er bereits ein freier Mann ist und bereits tut und lässt, was er will. Und ich liess ihn machen und in seinem so sein, auch wenn das, äusserlich betrachtet, wieder bedeutete, keinen Kontakt zu ihm zu haben.

Über 2,5 Jahre lang hat er gegen den Krebs gekämpft und er bildete sich auch zurück, doch dann hat er sich explosionsartig in der Lunge, auf den Lymphen und seinem Gehirn ausgebreitet. Seit Ende November 2016 ist er im Pflegeheim auf einer geschlossenen Station, weil er inzwischen körperlich schwach geworden ist aber auch sehr verwirrt ist, phantasiert und Geschichten erzählt, die so nicht statt gefunden haben. Die Hirnmetastasen sind so zahlreich, man weiss nie, wann einer davon irgend ein lebensnotwendiges Organ ausser Kraft setzt und er stirbt.

Und wieder fiel ich in eine tiefe Traurigkeit. Nicht, weil er bald von mir gehen würde, sondern weil er in so kurzer Zeit so alt und gebrechlich wurde und sein Leben nur noch in diesem Zimmer auf dieser Station statt finden würde. Ausserdem wollte ich ihm doch noch einiges sagen und wie soll ich ihm das sagen, wenn Worte ihn doch gar nicht mehr wirklich erreichen.

Gestern war ich wieder bei ihm und zum ersten mal waren wir völlig unter uns. Er hatte bis vor kurzem noch jemanden im Zimmer, doch der ist vor ein paar Wochen gestorben.

Er hat geredet und geredet, ununterbrochen geplaudert und obwohl nicht alle Geschichten genau so statt gefunden haben, wie er es erzählte, habe ich ihm aufmerksam zugehört. Über 2 Stunden lang! Mehrmals meinte er: "Weisst du, wenn ich rede, dann geht es mir besser, dann geht es meiner Seele besser auch wenn das, was ich sage, nicht immer lieb ist, ich spüre, dass es mir gut tut, wenn ich rede und nichts mehr verschweige." Ich nickte meistens nur, denn wenn ich ihn unterbrach oder eine Frage stellte, verwirrte ihn das bloss.

Er weinte auch, wenn ihn etwas berührte und dass ich da war, war so etwas, was ihn sehr berührte. Seine geliebte Tochter! Auch dass ich ihm zuhörte, seine Hand hielt und sie streichelte, berührte ihn. Es tat ihm so gut, einfach mal zu reden, ohne dass ihn jemand unterbrach oder sagte, dass das was er da erzählt, nicht wahr wäre oder Blödsinn.

Einmal fragte er mich, ob ich wisse, wieviel Tränen ein Mensch haben könne, da sagte ich ihm, unendlich viele. Er lachte.

Irgendwann meinte er dann, dass er halt eben nicht so viel geredet habe, in seinem Leben und ich spürte, wie er immer noch ein schlechtes Gewissen hatte, er wäre kein guter Vater gewesen. Da hielt ich seine Hand ganz fest, schaute ihm in die Augen und sagte:

"Weisst du Papi, du bist ein grosses Vorbild für mich. Egal was dir passiert ist, und gerade in deiner Kindheit ist dir viel schlimmes passiert, du hast nie aufgegeben, du hast dein Herz offen gelassen, obwohl du 1000 Gründe gehabt hättest, es zu schliessen. Du warst für andere da, hast nie gejammert, bist deinen Weg gegangen, immer aufrecht und stark und genau deinetwegen bin ich auch so stark und halte mein Herz auch offen. Deinetwegen bin ich ein guter Mensch und darum hast du alles richtig gemacht, so wie du es gemacht hast. Ausserdem habe ich dich immer gespürt, egal was war, du hast mich immer mit offenem Herzen empfangen, warst mir nie wirklich böse, hast mir immer verziehen, ohne Worte aber ich habe dich immer gespürt. Schau mich an, mir geht es prima und ich bin ein glücklicher Mensch und wenn du etwas falsch gemacht hättest, ich wäre heute nicht so."

Meine Worte sind angekommen. Egal wieviel Tumore in seinem Kopf sind, sie sind angekommen. Ich bin unendlich dankbar für diesen wunderbaren, zauberhafte Moment, der tiefen Frieden brachte.

Ich habe keine Ahnung, wie lange er noch leben wird und ob er wirklich der erste Mensch in meinem Leben sein wird, den ich durch den Tod verliere. Aber heute habe ich keine Angst mehr davor, wie ich mich fühlen könnte. Ich werde es einfach fühlen.

HerzLichtGrüsse
Monia ॐ